(Quelle: Kauer/DJV)

«Bambi» - ein Klischee aus dem Wald

23. Februar 2023 (dpa) München

Rehe jagen für den Naturschutz? Für «Bambi»-Fans macht das absolut keinen Sinn. Im Film ist das Reh einfach nur niedlich und der Jäger der Bösewicht. Doch in der Realität ist es viel komplizierter.

Realitätscheck: Was hat "Bambi" mit dem Reh im Wald gemein?
Realitätscheck: Was hat "Bambi" mit dem Reh im Wald gemein? (Quelle: Hamann/DJV)

Große Kulleraugen, ein fröhlich wippendes Schwänzchen und vier staksige Beine - seit «Bambi» haben viele Menschen eine klare Vorstellung von der Rollenverteilung im Wald: auf der einen Seite das niedliche, unschuldige Reh, auf der anderen Seite die Jäger, die «Bambis» Mutter töten. Doch jetzt steht dieses Bild Kopf: Forstleute und Naturschutzverbände fordern, mehr Rehe zu schießen, denn diese bremsen ihnen zufolge den in der Klimakrise so wichtigen Waldumbau - so manche Jägerinnen und Jäger aber zögern. Um «Bambi» ist eine Art Kulturkampf ausgebrochen.

Vor rund 100 Jahren erschien der Roman «Bambi - Eine Lebensgeschichte aus dem Wald» des österreichischen Schriftstellers Felix Salten, erst als Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitung, Ende 1922 als Roman in einer Startauflage von 8000 Exemplaren. Das Buch wurde beim Erscheinen vordatiert auf 1923. Berühmt wird «Bambi» dann allerdings erst 1942 mit dem Zeichentrickfilm von Disney, der auf dem Buch basiert. Für Generationen von Kindern war dieser prägend - auch für die Münchner Medienwissenschaftlerin Maya Götz. «Er prägt unser Bild, wie geht es einem Reh. Und er prägt das Bild vom Jäger - nämlich: Er schießt Rehe.»

Vor allem die Szene, in der «Bambis» Mutter bei einer Treibjagd erschossen wird, wirkt noch Jahrzehnte später nach, wie Götz in einer Studie zu Angst und Alpträumen herausfand, die Filme hervorrufen. Dazu befragte sie rund 630 Erwachsene aus acht Ländern zu ihren frühsten Angsterlebnissen. ««Bambi» war einer der am häufigsten genannten Filme», sagt die Expertin vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen des Bayerischen Rundfunks. Der Tod von «Bambis» Mutter sei so verstörend, weil Vorschulkinder keine Distanz zum Inhalt herstellen könnten. «In dem Moment sind sie Bambi. Das ist für sie ein traumatisches Erlebnis, wovon sie Alpträume bekommen haben.» Gegen die Macht der Bilder lässt sich auch nur schwer argumentieren.

«Bambi» sei bis heute ein «Supergau für die Forstwirtschaft», meint der bayerische Heimatpfleger Rudolf Neumaier, der selbst ein Buch über die Faszination Reh geschrieben hat. «Das Wildtier Reh ist durch die Marke «Bambi» so populär geworden, dass es schwierig ist, eine Geschichte zu erzählen, in der es ein Schädling ist.» Neumaier ist selbst Jäger und beobachtet die Debatte um die Abschusszahlen deshalb ganz genau. «Das ist ein Riesenthema im Moment», meint er. «Ich finde, es wird zu schnell gefordert, die Rehbestände anzupassen - oder zu regulieren, wie es euphemistisch heißt.»

Einer, der das fordert, ist zum Beispiel Ralf Straußberger vom Bund Naturschutz in Bayern. «Die Rehe sind natürlich nicht Schuld an der Entwicklung. Diese ist menschengemacht», sagt er. Ursache sei eine «völlig fehlgeleitete Jagd- und Forstpolitik». Etwa 450 000 Hektar Wald müssen nach Angaben des Bundesagrarministeriums nach starken Stürmen, extremer Dürre und Borkenkäferbefall in den nächsten Jahren in Deutschland wieder aufgeforstet werden. Doch oft hätten die jungen Bäumchen keine Chance hochzuwachsen, weil Rehe und Hirsche diese anknabberten, sagt Straußberger. «Man verliert zentrale Baumarten.» Denn gerade klimaresistentere Arten wie Eiche oder Tanne seien bei den Wildtieren beliebt. Wie viele Rehe es in Deutschland gibt, kann keiner sagen. Nach Ansicht von Straußberger wird deren Zahl jedoch völlig unterschätzt.

Weil Rehe kaum natürlichen Feinde haben, auf Feldern ganzjährig Nahrung finden und teilweise im Winter sogar gefüttert werden, könnten sie sich stark vermehren, sagt er. Vor allem in Gebieten, wo der Wald geschädigt sei, müssten die Abschussquoten deshalb steigen. Er selbst ist Jäger und am seinen Angaben nach größten Waldumbauprojekt Bayerns südlich von Nürnberg beteiligt. 10 bis 15 Rehe je 100 Hektar schießen er und seine Mitstreiter dort jährlich. «Das muss man örtlich anpassen», sagt er. Dass eine solche Forderung auch auf Unverständnis stößt, liege auch an «Bambi», meint Straußberger. «Viele glauben auch wegen des Films, dass der Hirsch das männliche Reh ist. Da sieht man, wie man mit einer Erzählung einen völlig falschen Eindruck erweckt», erläutert der Naturschützer. In Saltens Roman ist «Bambi» ein Rehbock. Im Film, der in Nordamerika spielt, wird daraus aber ein Weißwedelhirsch.

Der Forstwissenschaftler Ulrich Schraml hat jahrelang Wildtiermanagement gelehrt und anhand von «Bambi» mit seinen Studierenden darüber diskutiert, wie sich die Alltagskultur auf Managementaufgaben auswirken kann. In letzter Zeit habe er den Film aber nicht mehr gezeigt, weil die jungen Leute diesen in ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben, sagt der Direktor der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg in Freiburg. «Deshalb ist die Wirkung nicht mehr so groß, wie man ihm nachsagt.» Trotzdem sieht er nach wie vor ein besonderes Verhältnis zu Rehen und Hirschen in Deutschland. «Da wird beim Abschuss ganz anderes diskutiert als beim Wildschwein.»

Der Grund ist ein kulturgeschichtlicher: in Märchen, Sagen, Gemälden und sogar Dekorationsartikeln - überall begegnet man Hirschen und Rehen als inspirierender Figur. Aus ökologischer Sicht kann es nach Angaben von Schraml aber durchaus Sinn machen, mehr Rehe zu jagen. Diese seien in vielen Wäldern dafür verantwortlich, dass bestimmte Bäume nicht hochwachsen könnten, weil Rehe im Gegensatz zu Rot-, Dam- und Sikawild flächendeckend vorkommen. Außerdem habe Rehwild relativ kleine Mägen und sei damit auf hochwertige Nahrung angewiesen. «Deshalb haben Rehe mehr Interesse daran, von Knospe zu Knospe zu gehen, weil dort die Nährstoffe konzentriert sind», erläutert Schraml. «Man muss dort Druck durch die Jagd machen, wo man den Wald umbaut.»

1,2 Millionen Rehe werden nach Angaben des Deutschen Jagdverbands jährlich in Deutschland erlegt. Die Debatte, wie viele es zum Schutz des Waldes mehr sein müssten, greift nach Ansicht von Sprecher Torsten Reinwald zu kurz. «Man braucht eine wildökologische Raumplanung.» Das bedeute neben verstärkter Jagd in Aufforstungsflächen zum Beispiel auch Ruhezone mit attraktivem Nahrungsangebot. Genauso wie die Wohlfühlwelt von Disney habe die Dämonisierung der Rehe wenig mit der Natur zu tun, sagt er. «Das ist wieder ein Extrem, dass der Realität nicht gerecht wird. Das Reh ist letztlich ein Waldbewohner unter vielen.»

Ähnlich sieht es Andreas Kinser von der Deutschen Wildtier Stiftung in Hamburg. «Man kapriziert sich zu sehr auf einen Faktor. Das Reh verhindert die Waldverjüngung nicht, es verzögert sie nur.» In Gegenden, wo Stürme oder der Borkenkäfer gewütet hätten, spiele die Jagd eine wichtige Rolle, sei aber nicht die alleinige Lösung. Neu gepflanzte Bäume aus der Baumschule wie Douglasie oder Roteiche müssten in den ersten Jahren zusätzlich geschützt werden. Denn diese seien mit ihrem hohen Nährstoffgehalt ein Leckerbissen für Rehe. «Ich bin mir nicht sicher, ob «Bambi» dem Reh nicht eher geschadet hat», meint Kinser mit Blick auf die Debatte um die Abschusszahlen.«Ohne das Klischee gebe es nicht so viel Emotionalität in der Debatte. Das macht es nicht leichter.»