(Quelle: Kauer/DJV)

Jagd erleben - sich auf die Natur einlassen

1. Januar 2016 (Hinrichs/privat) Berlin

Strackholt, im Herzen Ostfrieslands, am 1. Mai 2016 bei schönstem Frühlingswetter. Wir sitzen bei Tanja und Rainer in der Jagdhütte, die schon ein Erlebnis für sich ist, und genießen erst mal eine Tasse Tee.

#Jaeben16
#Jaeben16 (Quelle: Hinrichs/privat)

Rainer, der Heger, begrüßt uns. Kerstin und Jörn, ein befreundetes Jägerpärchen, den Nachbarsjungen, einen 11-jährigen angehenden Nachwuchsjäger und mich, eher Stadtmensch und absoluter Laie was Jagd angeht.

Bis es mich der Liebe wegen aufs Land zog, kam die Milch bei mir aus dem Tetrapack und das Fleisch aus der Kühltruhe des nächstgelegenen Supermarktes.

Heute bin ich eingeladen und darf die Jäger auf Ansitzjagd begleiten. Der Rehbock ist zum Abschuss freigegeben. Rainer spricht bei der Begrüßung ein paar einleitende Worte über die Jagd als ältestes Handwerk der Welt und verleiht dem Abend damit eine besondere Würdigung. Irgendwie fühle ich mich privilegiert und bekomme den Eindruck etwas Besonderes erleben zu dürfen. Nachdem Tanja mich super gut gegen die abendliche Kälte mit Decke und Mütze ausgestattet hat, geht's los. Die Jäger verteilen sich auf ihre Ansitze. Ich darf Kerstin begleiten. Über 20 Jahre Jagderfahrung. Wir fahren ins Revier und platzieren uns auf dem Ansitz, einer aufgeständerten Baubude mitten im Windmühlenpark. Kerstin drückt mir ein Fernglas in die Hand und erklärt mir, wo ich die bestmöglichen Chancen habe etwas zu erspähen.

Gleich zu Beginn entdecken wir ein weibliches Reh. Das heißt, dass es sich dabei um ein weibliches Reh handelt, sieht natürlich nur Kerstin. Ich lass mir erklären, dass nur die Böcke ein Geweih tragen, also gibt es schon mal ein eindeutiges äußeres Erkennungsmerkmal. Dennoch finde ich es auf die Entfernung gar nicht so einfach den Unterschied auszumachen. Doch das bringt natürlich die Erfahrung mit sich.

So schnell das Tier aufgetaucht ist, ist es auch schon wieder weg. Wir suchen konzentriert mit unseren Ferngläsern die Umgebung nach Rehwild ab. Lange Zeit passiert gar nichts. Ich frage mich, ob das nicht ganz schön langweilig werden kann, einfach nur so in die Gegend zu gucken. Doch mit der Zeit macht sich ein ganz anderes Gefühl in mir breit. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses 'sich auf die Natur einlassen' auch bei mir therapeutische Wirkung entfaltet. Wellness für Geist und Seele. Kerstin bestätigt meinen Eindruck. Es sei ihr gar nicht so wichtig, immer etwas vor die Flinte zu bekommen.  Allein zwei Stunden auf dem Ansitz zu verbringen, führe zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Und zu entdecken gebe es immer etwas. Ich bin beeindruckt und beginne Verständnis für die Faszination des Jagens zu entwickeln.

Kurze Zeit später wird unsere Ausdauer tatsächlich belohnt. Nachdem wir zunächst von hoppelnden Hasen unterhalten wurden, taucht ein Schmaltier auf. Natürlich kannte ich den Begriff vorher nicht. Nun weiß ich aber, dass es sich um ein weibliches Jungreh handelt, welches noch keine Kitze zur Welt gebracht hat. Wie Kerstin das nun so genau erkannt hat, wird mir auch weiterhin ein Rätsel bleiben, aber ich fühle mich bereits um so viel Wissen bereichert, dass diese verbleibende Lücke auch völlig okay ist.

Nun platziert sich dieses Reh genau vor unsere Hütte und futtert seelenruhig vor sich hin. Ein schönes Naturschauspiel, das sich über 20 Minuten hinzieht. Wir sind so fasziniert und gefesselt von dem Anblick, dass wir nun doch Sorge haben, den Bock zu verpassen, der vielleicht auch irgendwo in unserer Nähe sein könnte. Als sich unser Reh dann langsam aus unserem Blickwinkel verabschiedet, taucht kurz darauf tatsächlich ein Rehbock auf. Das Objekt der Begierde!  So, nun kann's losgehen, denke ich, doch Kerstin vertröstet mich nach einem geschulten Blick auf das Tier. Dieser wäre zu jung, den würden wir ziehen lassen. Wie hat sie das jetzt nun wieder gesehen? Sie klärt mich auf, dass man das Alter des Bocks am Geweih bestimmen kann. Ältere Tiere bilden mehrere Vergabelungen aus.

Noch bevor sich eine Enttäuschung darüber breit machen kann, dass wir wieder nicht das richtige Wild gesichtet haben, taucht ein weiteres Reh auf sowie ein zweiter Bock. Wow, ganz schön viel los im Revier.

Nun soll es tatsächlich soweit sein. Dieser Bock erfüllt alle Abschusskriterien. Kerstin gibt mir das verabredete Zeichen, mir die Ohren zu zuhalten, da der Knall sehr laut werden kann. Doch ich bin viel zu aufgeregt. Was interessant ist, auch bei ihr bemerke ich eine leichte Aufregung und Anspannung. Dann der laute Knall. Ein gezielter Schuss, einmal zuckt der Bock noch, dann ist Stille. Auch wir sind erfüllt von einer andächtigen Ruhe. Wir haben das Tier tatsächlich erlegt, der Bock ist tot. Ich spüre großen Respekt vor dem Leben und dem Tod eines Lebewesens und bin mir der Verantwortung bewusst, dass wir in diesem Fall darüber entschieden haben. Ich habe den Eindruck, dass Kerstin ähnlich empfindet. Das finde ich nach 20jähriger Jägerschaft sehr eindrucksvoll. Es zeugt nach meinem Empfinden von großem Respekt dem Tier und der Natur gegenüber.

Eine Weile warten wir noch. Als die beiden anderen Tiere sich entfernt haben, klettern wir von unserem Ansitz runter und gehen zu dem erlegten Bock. Gut getroffen. Der musste nicht leiden. Kerstin steckt dem Rehbock einen Zweig zwischen die Zähne. Wieder lerne ich etwas. Der letzte Bissen, ein schönes würdevolles Ritual. Wir tragen den Bock zum Auto und laden ihn in den Kofferraum. Dann geht's nach Hause zum Wild Aufbrechen. Auf dem Heimweg können wir weitere Tiere beobachten, darunter ein trächtiges Reh. Ich hätte nicht gedacht, dass wir soviel zu sehen bekommen im Revier.

Bei Kerstin im Garten hängen wir den Bock an den Hinterbeinen an einen geeigneten Baum. Mit einem gekonnten Schnitt ist die Bauchdecke durchtrennt und Kerstin entnimmt die Gedärme. Zusehen macht mir nichts aus, aber selber ran mag ich dann doch nicht. Sie entfernt die Leber und begutachtet diese. An der Leber kann man wohl erkennen, ob es sich um ein gesundes Tier handelt. Ich nehme die Leber in einem Behälter entgegen, da wir diese noch am selben Abend gemeinsam mit Tanja und Rainer verspeisen wollen. Auch so ein Jägerbrauch. Nun habe ich Glück, ich mag Leber. Soll ja Leute geben, die da nicht so drauf stehen.

Kerstins Tochter Alina, auch Jungjägerin, tänzelt schon eine Weile mit einem Birkenzweig um sie herum. Ich denk, was ist nun denn los. Doch es handelt sich mal wieder um einen der zahlreichen Jägerbräuche. Sie steckt ihr den Zweig in die Haare und beglückwünscht sie zum erlegten Wild. Eigentlich gehört der Zweig an den Hut, doch den hat Kerstin gerade nicht auf. Im Haar macht er sich aber auch ganz gut.

Anschließend machen wir uns auf den Weg zu Tanja und Rainer, um den Jagdabend gemeinsam ausklingen zu lassen. Auch Tanja und Rainer hatten Jagderfolg. Beide haben einen Bock erlegt. Als wir dazustoßen, sind sie gerade dabei die Tiere aufzubrechen. Es folgt gegenseitiges Beglückwünschen. Auch Jörn, Kerstins Mann, ist inzwischen dazugekommen. Er hat das Wild am heutigen Abend ziehen lassen und nichts erlegt.

In der Küche machen wir uns an die Zubereitung der Rehleber. Schnell schneiden wir ein paar Apfelstücke in Scheiben und eine Zwiebel klein. Alles rein in die Pfanne und ruck zuck ist ein deftiges leckeres Mahl zubereitet. Dann sitzen wir in sehr gemütlicher Atmosphäre alle gemeinsam wieder in der Jagdhütte und erzählen uns bei einem leckeren Abendessen und einem kühlen Bier gegenseitig unsere Jagderlebnisse. Es geht reihum, jeder berichtet ausführlich über das Geschehen des Abends auf seinem Ansitz. Auch ich werde aufgefordert zu erzählen, was ich erlebt habe. Alle anderen hören gebannt zu.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese Gemeinschaft sich sehr intensiv und diszipliniert an Regeln des Miteinanders hält, die wir alle bereits im Kindergarten gelernt haben und die doch in der Gesellschaft häufig in Vergessenheit geraten.

Mein Fazit des Abends: Wenn naturverbundene Menschen sich nach Ritualen und Gemeinschaft sehnen, dann sind sie bei den Jägern gut aufgehoben.

Ich selber werde nicht gleich den Jagdschein machen. Dennoch war es ein sehr eindrucksvolles und prägendes Erlebnis, mein Abendessen quasi selbst zu erlegen. Als wir  zum krönenden Abschluss vor der Jagdhütte ums Lagerfeuer sitzen, weiß ich jedoch, dass es eine glückliche Fügung des Schicksals war, im ländlichen Paradies Ostfrieslands meinen Lebensmittelpunkt gefunden zu haben.

Joanna Hinrichs