(Quelle: Kauer/DJV)

Als Nichtjägerin zur Pirsch

1. Januar 2016 (Marie/privat) Berlin

Ich heiße Marie, bin 24 und Designstudentin aus Kiel. So auf den ersten Blick habe ich nichts mit dem Bereich der Jagd zu tun und ich bin auch keine Jägerin, aber in den letzten Jahren geht mir dieses Thema immer häufiger durch den Kopf und lässt mich nicht mehr los.

#Jaeben16
#Jaeben16 (Quelle: Marie/privat)

Seit circa einem halben Jahr gehe ich mit einer befreundeten Jägerin in ihr Revier. Hochsitze bauen, Schleppen für den Hund ziehen und einfach in der Natur sein. Die Faszination für die Jagd wurde durch den vermehrten Kontakt mit ihr immer größer und ich fing selber an, mit meinem Hund Fährtenarbeit zu machen und in die Jagdhundeschule zu gehen. Dieses Jahr soll er die Brauchbarkeitsprüfung auf Niederwild machen. Aber auch meine Art, die heimische Natur wahrzunehmen, hat sich verändert. Auf einmal sieht man viel mehr: Spuren im Waldboden, Wege auf denen das Wild wechselt und ihre Schlafplätze. All diese Dinge habe ich vorher kaum wahrgenommen. Und auch meinen Hund lasse ich nicht mehr einfach durch den Wald streifen, obwohl er immer abrufbar ist. Mir ist klar geworden, dass es mit gutem Grund Wege gibt und das Wild seine Ruhe braucht. Die Wichtigkeit dieser Kleinigkeiten wird einem erst in vollem Ausmaß bewusst, wenn man sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzt. Durch all dies wurde in mir der Wunsch immer größer, selber einen Jagdschein zu machen. Allerdings habe ich mir auch Fragen gestellt: Ob ich wohl selbst in der Lage wäre, ein Tier zu erlegen? Und was löst es in mir aus, wenn direkt vor meinen Augen ein Tier stirbt? Für mich war aber schon immer klar, dass es dazugehören sollte, es zu ertragen, dass Tiere für einen sterben, wenn man Fleisch isst. Und immer war mir wichtig, dass Tiere ein würdevolles Leben führen dürfen und dass das Fleisch, das ich konsumiere aus artgerechter Haltung kommt. Welches Leben könnte für ein Tier würdevoller und artgerechter sein, als bis zu seinem Tod in Freiheit zu leben?
Als meine jüngere Cousine Martje, die sehr früh ihren Jagdschein gemacht hat, mir dann anbot, mal mit ihr ins Revier zu fahren und ansitzen zu gehen, habe ich natürlich sofort ja gesagt und mich total auf den Tag gefreut. Am 31.Oktober 2015 war es dann soweit, ich fuhr nach Neumünster zu meiner Verwandtschaft. Es war schon 15.30 Uhr, als ich dort ankam. Also war Eile geboten, um rechtzeitig im Revier zu sein und genug Zeit zu haben, bevor es zu dunkel wird. 'Also los!', dachte ich mir und zog mehrere Lagen dunkelgrüne Klamotten übereinander, da es schon ordentlich kalt werden kann, wenn man im Oktober lange draußen sitzt und sich nicht bewegt.

Martje und ich fuhren also ins Revier. Auf dem Weg dorthin erzählte sie mir, nach was wir Ausschau halten würden: Eine Ricke im richtigen Alter, nicht tragend und ohne Kitz, das sie zu versorgen hat. Als wir ankamen, parkte meine Cousine das Auto auf einem Feldweg, nahm ihren Rucksack, schulterte ihre Waffe und packte die Munition ein. Über ein abgemähtes Maisfeld gingen wir so leise wie möglich in Deckung eines Knicks auf den Hochsitz zu. Schnell stellte ich fest, dass leise sein gar nicht so einfach ist, wenn im Herbst trockene Blätter und die Reste vom Mais unter den Füßen rascheln.

Und dann auf einmal ein Geräusch, das nicht von uns kommt, ein Knacken und ein Reh springt aus dem Knick auf das gegenüberliegende Feld, bleibt stehen. Martje und ich verharren regungslos und schauen zu dem Stück rüber. Dann höre ich ein mir bis dato unbekanntes Geräusch. Eine Mischung aus Krächzen und Schreien. Es dauert kurz, bis ich begreife, dass es das Reh ist, das diese Warnlaute von sich gibt. Dann setzt es sich in Bewegung, springt das Feld hinunter, über den Knick, das Feld, auf dem wir stehen, und dann auf die benachbarte Wiese. Schließlich ist es außer Sichtweite. Erst dann gehen wir - ich mit ein wenig Herzklopfen - weiter, kommen am Hochsitz an, klettern hoch und setzen uns in die Kanzel. Alle Klappen machen wir auf und haben einen tollen Rundumblick. Die Landschaft ist wunderschön und die Sonne scheint. Wir drehen uns in
Richtung Wald, denn von da kommt der Wind. So haben wir eine Chance, das Wild zu sehen, bevor es uns wittern kann. Martje erklärt mir ganz leise flüsternd, dass sie sich ärgert, dass wir das Reh aufgescheucht haben, weil es ein passendes Stück hätte sein können und dass es mit dem 'schrecken' vielleicht anderes Wild verschreckt haben könnte. 'Schrecken nennt man das also', denke ich bei mir. Die ganze Jägersprache habe ich noch nicht so verinnerlicht, aber ich gebe mir Mühe. Für mich gehört das einfach dazu. Wenn ich mit meinem Vater segeln gehe, sage ich ja auch nicht 'links' und 'rechts', sondern 'Backboard' und 'Steuerboard'. Das ist Tradition und ich finde es schön, sich diese neuen Vokabeln anzueignen.

Aber nun zurück auf den Hochsitz. Lange passiert nichts um uns herum, wir zeigen uns gegenseitig auf unserem Smartphone Jagdhunderassen, die uns begeistern, und Martje erzählt flüsternd von ihren Jagderfahrungen. Immer wieder suche ich mit dem Fernglas den Waldrand und den Knick ab, aber nichts zu sehen. Und trotzdem habe ich immer wieder kurze Momente, in denen mein Atem stockt und ich denke, etwas gesehen zu haben. Doch einmal ist es nur ein dunkler Schatten unter einem Baum und ein anderes mal ein seltsam geformtes Gebüsch am Waldrand. Gar nicht so einfach, das Ganze. Zudem habe ich immer das Gefühl, dass etwas hinter unserem Rücken passiert, so als würde uns das Wild an der Nase herumführen. Der Gedanke an Fuchs und Hase, die still unter der Kanzel sitzen, lässt mich schmunzeln.

Circa eine Stunde, vielleicht auch etwas mehr, sitzen wir auf dem Hochsitz ohne dass uns etwas ins Sichtfeld kommt. Lediglich einen Hasen habe ich gesehen. Den beobachte ich durchs Fernglas, aber er sitzt nur regungslos da und als ich das nächste mal hinsehe, ist er weg. Obwohl wir so wenig gesehen haben, war es keinesfalls langweilig und die Zeit verging schnell. Schließlich brechen wir auf. Wir wollen in die Richtung, in die das Reh gelaufen ist. Vielleicht sehen wir es ja nochmal. Vielleicht kann Martje nochmal bestimmen, ob es wirklich ein passendes Stück wäre.

Aber auf dem Rückweg über das Feld sehen wir nichts. Dann gehen wir auf den Feldweg Richtung Auto und langsam macht sich ein wenig Enttäuschung in mir breit. Ich hatte so gehofft, ein wenig 'mehr' zu erleben. Auf einmal bleibt meine Cousine stehen, nimmt ihr Fernglas hoch und schaut über eine gegenüberliegende Wiese. Sie flüstert mir zu, dass am anderen Ende ein Stück Rehwild am Knick steht. Also nehme ich auch schnell mein Fernglas und versuche auch etwas zu sehen. Nichts. Bewundernswert, dass Martje es überhaupt ausmachen konnte. Aber dann sieht auch sie es nicht mehr. Sie schlägt vor, mit dem Auto auf die andere Seite zu fahren. Zu der Wiese, auf die das Wild gewechselt hat. Wir gehen schnell zum Auto. Ganz schön schwierig, eine Autotür leise zu schließen.
Die Sonne geht langsam unter und die Landschaft, die uns umgibt, ist geradezu kitschig. Ein wenig Nebel liegt über den Wiesen und der Himmel ist rosa. Als wir auf der anderen Seite ankommen sehe ich dann auch endlich, was meine Cousine schon erahnt hat: Drei Stück Rehwild stehen auf der Wiese.

Es ist schon relativ duster und die Dunkelheit kommt immer schneller. Wir fahren noch ein Stück, lassen das Auto stehen und lehnen die Türen nur an. Geduckt pirschen wir ein Stückchen den Weg entlang. Schon wieder überall dieses verdammte trockene Laub. Mir war vorher nie so wirklich aufgefallen, wie laut das ist. Und in der Stille scheint es noch viel lauter. Trotzdem schaffen wir es unbemerkt vom Wild, uns heranzupirschen. Nur der Knick trennt uns von der Wiese und die Rehe stehen schräg rechts vor uns. Martje schleicht in den Knick und legt sich in der Deckung eines großen Baumes hin. Ich bleibe auf dem Weg stehen, um keinen unnötigen Lärm zu machen und ein wenig unsicher, was ich nun machen kann, darf oder soll. Rechts am Baum vorbei kann ich das Wild aber gut sehen.
In der Stille, die uns umgibt, kommt mir mein Atem sehr laut vor und die Anspannung die meine Cousine und mich umgibt ist fast greifbar. Ich beobachte Martje und wie oft und lange sie durch ihr Fernglas schaut, um sicherzustellen, dass es sich um ein passendes Stück handelt. Als ich gerade denke, dass es schon fast zu dunkel ist, dreht sie sich zu mir um und flüstert, dass sie nun versuchen möchte, eines der Tier zu erlegen. Jetzt wird es also ernst. Ich setzte mir den Gehörschutz auf und warte angespannt darauf, dass es passieren wird. Das ist schon ein komisches Gefühl, denn als Beobachter weiß man zwar, dass es einen Schuss geben wird, aber nicht genau wann. Und dann der Knall, ein feuriges Aufleuchten am Gewehr, das Reh sackt in sich zusammen, die anderen beiden flüchten. Dann wieder Stille. Ich nehme den Gehörschutz wieder ab und sehe meine Cousine an. Sie dreht sich zu mir und sagt, dass sie kurz einen Augenblick braucht. Das kann ich gut verstehen, denn auch ich brauche einen. Ich spüre, wie die Anspannung von Martje und mir abfällt. Sie reicht mir die leere Patronenhülse und fragt mich, ob ich diese als Andenken haben möchte. Natürlich möchte ich!

Wir gehen kurz zurück zum Auto und schließen es ab, dann steigen wir über den Knick. Es kommt mir merkwürdig vor, nun nicht mehr schleichen und flüstern zu müssen. Martje knickt zwei Triebe von einem Baum ab und nimmt sie mit. Ich frage warum und sie erklärt mir, dass der eine Zweig quasi die letzte Mahlzeit für das erlegte Tier ist und dass sie mit dem anderen zeigt, dass sie das erlegte Stück Wild in Besitz nimmt. Wir kommen bei der toten Ricke an. Es ist merkwürdig, sie nun dort so liegen zu sehen, schließlich stand sie ja eben noch mit Artgenossen auf der Wiese. Nun liegt sie vor uns. Martje legt dem Stück einen Zweig ins Maul, den anderen auf die Schusswunde. Wir hocken uns hin und halten einen Moment inne. Sie erzählt mir, dass es auch für sie jedes mal noch emotional ist, ein Tier zu erlegen. Ich finde es beeindruckend, wie respektvoll meine Cousine mit dem Ganzen umgeht. Auch den Brauch mit den Ästen hätte sie ja nicht machen müssen. Schließlich bin nur ich dabei und ich habe noch keine Ahnung von den Bräuchen und dem, was man tun sollte oder nicht.

Martje fragt mich schließlich, ob ich mit anpacken kann. Klar. Ich nehme die Hinterbeine und sie die Vorderbeine, kreuzt diese hinter dem Rehkopf, damit dieser nicht auf den Boden schleift. Ganz schön schwer so ein Reh. So kommt es einem jedenfalls vor, wenn man dieses tragen muss. Wir bringen das Reh zum Auto, fahren zur Wildkammer und hängen es an den Hinterläufen auf. Ich schaue Martje beim Aufbrechen und Ausnehmen des Tieres zu, helfe wo ich kann und erfahre noch viel, auf das man achten sollte und woran man zum Beispiel erkennen kann, ob eine Ricke tragend oder säugend ist. Am Ende hängen wir das Reh in die Kühlung und befreien die Wildkammer von Blut. Ich bin meiner Cousine sehr dankbar, dass sie mich an diesem Tag mitgenommen hat, denn für jemanden, der nicht direkt mit der Jagd aufwächst, ist es sehr schwierig, Einblicke zu gewinnen. Für mich war es
nicht nur ein einmaliges und aufregendes Erlebnis, sondern auch eine Art der Überprüfung des Wunsches, Jägerin zu werden. Viele Wochen danach denke ich noch an diesen Tag zurück und bespreche das Erlebte auch mit befreundeten Jägern. Das erste Mal dabei zu sein, wenn ein Stück Wild gestreckt wird, bestärkt mich in meinem Vorhaben, den Jagdschein zu machen und die Ausbildung meines Hundes fortzusetzen, da ich nun weiß, wie es ist, wenn vor einem ein Tier stirbt. Mit allem, was dazugehört.