(Quelle: Kauer/DJV)

An einem Sonntagabend im August

1. Januar 2016 (Lara/privat) Berlin

Ich bin gerade eben aus dem Zug ausgestiegen und mein Freund steht mit dem Auto vor dem Bahnhof. Es ist 23 Uhr. Ich freue mich wirklich schon sehr auf die gemeinsame Couch, aber...

#Jaeben16
#Jaeben16 (Quelle: Lara/privat)

Er ist an sein Auto gelehnt und wie ich ihn so anschaue, grinst er verdächtig und sagt: 'Tut mir Leid, aber wir müssen erstmal zur Kühlzelle!' Ich etwas irritiert und dann leicht entsetzt: 'Wieso das de..? Liegt da...?' und er strahlend: 'JA! Ein Bock!' Oh man, ich hätt's wissen müssen.

Heidewitzka! Ihr müsst wissen, dass ich mir sehr viel Zeit gelassen habe, mich der Jagd, dem Jägerbrauchtum und dem Hund zu nähern. Bisher hatte ich das alles wunderbar theoretisch erfragen können, war neugierig aber auch selber mit sehr viel Vorbehalt und Skepsis beschäftigt. So, und dann steht der da nach fast zwei Jahren und sagt 'In der Karre liegt 'nen toter Bock, der muss jetzt flott in die Kühltruhe!' - Super! Also wir hin und ich mit realem unemotionalem Sicherheitsabstand beobachtend, was er da tut. Und es hat mich mächtig fasziniert! Endlich habe ich nach den vielen Erzählungen einen Eindruck davon bekommen, was der Kerl da eigentlich mehrmals die Woche erlebt und tut. Unglaublich spannend!

Am nächsten Tag war ich dann reif. Hätte ich mir das Abendprogramm des ersten Abends aussuchen können, wär wohl alles anders gekommen und ich hätte mich bestimmt noch schön eine Weile drum rum gedrückt. Nun war ich aber bereits einmal im kalten Wasser und hatte Zeit, das zu verdauen. Und dann sagt der Kerl sonntagsabends: 'Ich geh heute Abend raus!' Okay, ich muss mit! Was war das  für ein Abend! Mamamia! Sogar jetzt, drei Monate nach dem Jagderlebnis, bin ich noch genauso aufgeregt, wenn ich mich erinnere.

Was passierte: Rein in die Klamotten und ab ins Auto. Ich ziehe das erste Mal waldtaugliche, tarnfarbene Klamotten an. Blättermotive, Basecap, Schal, Handschuhe usw. (Ja, ich bin eine Frostbeule!) und so sehr ich es bisher auch als einen eher furchtbaren bis gewöhnungsbedürftigen Kleidungsstil empfand, habe ich mich doch ganz wohl und natürlich darin gefühlt.'Wie lange werden wir sitzen?' frage ich. 'Aaaach, nicht so lang. Zwei bis drei Stunden vielleicht!' Ja gut, nun ist der Mann das ja auch gewöhnt. Ich wiederum kenne ein bis zwei Stunden durch Meditationssitzungen. Aber gut. Ich beschließe, dass ich das kann. Nun sitzen wir dort auf diesem Hochsitz, schauen auf Wiese, Waldrand und Stromtrasse und mir wird sofort klar, warum Markus das macht. Bereits das Ankleiden zu Hause ist quasi der Beginn der Jagd und die erste Etappe einer Art von Transformation - das Umziehen, Anlegen von Tarnkleidung, Gewehr umhängen, Mütze aufsetzen. Im weiterenVerlauf des Abends werde ich noch mehr verstehen.

Auf dem Weg in den Wald werde ich bereits im Auto immer ruhiger. Ich spreche weniger, atme tiefer und meine Konzentration steigt. Alles, was wir im Vorfeld besprechen, merke ich mir sehr genau und ich stelle fest, wie ich meine Umwelt bereits jetzt bewusster wahrnehme. Ich hab das Gefühl, dass dieser Abend etwas besonders ist.

So sitzen wir also auf dem Hochsitz und mit dem Hinsetzen vertieft sich meine ganze Präsenz noch einmal. Ich atme aus, sehe mich um und werde noch langsamer und klarer. Und dann wird mir einfach alles klar. Mir wird klar, warum der Ansitz etwas so außergewöhnliches und besonderes ist, warum man dort so viel tiefe Entspannung erfahren kann und wie viel archaische Verbundenheit plötzlich greifbar wird. Es ist kaum in Worte zu fassen, wie viel Weite ich erlebt habe.

Dort, wo wir sitzen, ist es unglaublich still - fast totenstill. Alles, was zu hören ist, ist ein Eichelhäherpaar, ein Kolkrabenpaar und Mücken. Ein Hase ist in der Nähe zu sehen. Ich sehe die Fledermäuse und erinnere mich, wie ich es als Kind auf dem Land geliebt habe, in der Abenddämmerung draußen zu sitzen. Eine Hornisse versucht unter größter Anstrenung unter unserem Sitz irgendwo durchzukommen und hier und da fällt etwas vom Baum aufs Dach. Ich glaube, ich habe mich noch nie so erschrocken! Was ist das alles plötzlich laut! Außer den genannten Geschöpfen zeigt sich aber nichts. Ab und an hört Markus auf der rechten Seite offenbar immer wieder etwas. Für mich allerdings überhaut nicht differenzierbar.

Mit zunehmender Dämmerung habe auch ich mich immer mehr in die umgebende Natur versunken und werde mir gewahr, dass ich jede Faser meines Körpers und Geistes auf meine Umgebung eingestellt habe. Und dann knackt es plötzlich auf der rechten Seite. Spannung. Konzentration. Und noch weiter 'verschwinden', mich auflösen und ungesehen bleiben. Eine Sau kommt gemütlich aus einem jungen Tannenwald hervor und sucht den Boden ab. Markus ist sofort präsent, und nimmt in beeindruckender Langsamkeit und Ruhe das Gewehr und legt es an. Ich kriege das Zeichen, jetzt meine Ohren zu schützen und werde innerlich nervös. Ich tue, was mir gesagt wird und höre dabei meinen eigenen Herzschlag ohrenbetäubend laut. Innerlich bete ich 'Hau ab, Wildschwein. Hau ab!' Und sie tut es. Markus nimmt das Gewehr wieder runter und ich bin erleichtert. Und vor allem total damit beschäftigt, was hier gerade passiert bzw. hätte passieren können.

Im fast letzten Licht beschließt das Wildschwein dann doch, in einem großen Bogen hinter uns durch den Wald auf die andere Seite des Hochsitzes zu ziehen.

Jetzt war auch für mich klar, jetzt ist es so weit! Ich war erstaunt, wie gut ich die Sau trotz schlechter und ungewohnter Sicht im Wald orten kann, denn sie kam tatsächlich genau an der Stelle raus, die ich ebenfalls quasi prognostiziert hatte. Dann ging's ziemlich schnell: Das Zeichen für Ohrenschutz, Markus und das Gewehr, ich die Sau im Blick, sie noch ein paar Meter gebummelt und Schuss. Oder Knall. Mündungsfeuer. Sau läuft. Rascheln. Luftanhalten. Stille. Markus geblendet. Ich sehe die Sau. Dann nichts mehr. Ausatmen.

Markus meint, dass es ein gut sitzender Schuss war. Aber wo ist die Sau? Ist ja schon fast dunkel. Markus beschließt, dass ich auf dem Sitz bleibe, falls was ist. Er geht der Sau nach, holt zuerst den Hund und hat das Gewehr weiterhin parat für einen eventuellen zweiten Schuss. Ich war total nervös. 'Ach du Scheiße', denke ich. Zweiter Schuss? Ich sicherer hier oben?! Der Hund findet die Sau dann aber ziemlich schnell. Dass ich bei mittlerweile totaler Dunkelheit alles vom Hochsitz aus beobachten kann, macht das Ganze um so aufregender. Und dann kommt der Ruf, dass ich runter kommen kann und alles bestens verlaufen ist. Ich mach mich also auf den Weg, runter vom Hochsitz und stiefle durch die Wiese. Als ich am Lichtkegel der Stirnlampe von Markus ankomme, liegt die Sau bereits auf dem Rücken, der Bauch ist offen, es dampft und der Hund ist völlig von der Rolle.

Ich fange schlagartig an zu zittern, gebe ein komische Glucksen von mir, mein Handy fällt mir als Notfalltaschenlampe fast aus der Hand in die offene Sau und Markus attestiert mir lachend Jagdfieber. Ich stimme in seine Freude ein und genieße kurz dieses ungewöhnliche Gefühlsrauschen. Und dann ist auch schon wieder meine Konzentration da. Ich soll mit anpacken, sagt er. Ich denke 'Oh mein Gott!' Also werde ich zum Auto geschickt, um ein Seil und weitere Handschuhe zu holen. Und dann steh ich auch schon ebenfalls über der Sau, halte Vorderläufe, Herz und Leber in der Hand und sehe (und rieche!) zum ersten Mal reale Anatomie. Volles Programm, Krankheitscheck usw. Wahnsinn!

Die Geräusche während des Ausnehmens der Sau waren schon sehr speziell. Gurgeln, glucksen, schmatzen, reißen. Erstaunt war ich, dass mir nicht ernsthaft unwohl wurde. Im Gegenteil. Ich war absolut bei der Sache, sogar mit Elan dabei und es fühlte sich eher sehr natürlich an und überhaupt nicht ungewohnt. Herausfordernd wurde es, als die Sau aus dem Feld ins Auto musste. Das Tier war unglaublich schwer. Markus war bereits komplett verschwitzt. Also packte ich pragmatisch alles an, was zu tun war, lud im Auto um, zog und drückte und schlussendlich war das Tier im Auto.

Auf dem Weg zur Kühlzelle wurde mir bewusst, dass wir gerade ein Tier getötet hatten, welches jetzt hinten drin liegt und gleich in einer Kühlkammer aufgehängt wird. Das war ein krasser Moment. Die ganze Anspannung und Aufregung war weg und es blieb eine sehr tiefe innere Bewegtheit zurück. Zum Abschluss war Bürokratie und Sorgfalt angesagt: Sau aus dem Auto, Hund im Zaumhalten, Sau aufhängen, Sau wiegen, Sau säubern (und bestimmt noch weitere Dinge tun), Formulare ausfüllen und Materialien reinigen. Und natürlich: Sau fotografieren!

Eigentlich ist es ein super gutes Programm, um von dem Trip runter zu kommen und wieder klareren Boden unter den Füßen zu finden. Irgendwann ist es kurz vor Mitternacht und wir sitzen dann doch endlich geduscht und in gemütlichen Klamotten auf dem Sofa. Wir stoßen mit Bier an - auf diesen überwältigenden Abend mit viel Bewusstheit und Außergewöhnlichem und einem schlussendlichem Gefühl von Verbundenheit
und Ausgeglichenheit. Mein erstes Jagderlebnis und ein 69,5 Kg schwerer Keiler -
aufgebrochen.

Ich habe an diesem Abend drei Phasen erlebt. Die erste ist Transformation und Initiation, der Weltenwechsel und auch Bewusstseinswechsel. Durch den Kleiderwechsel Alltag ablegen. Konzentrieren und Fokussieren auf dem Weg zum Ansitz. Das Verschwinden des Egos, die Auflösung von Alltag und Problemen, das totale Loslassen und Verschwinden und Eintauchen in den Naturkreis im Wald selbst. Meditation. Kommt ein Tier, passiert unmittelbar Dominanz, Machtwechsel, Entscheidung über Leben und Tod, Jagd und Gejagter. Schnelle Entscheidung, höchste Wachheit und Präzision. Technik und Mechanik. Archaisches Erleben. Sterben.

Und die dritte Phase bringt Genauigkeit, losgelassenere Ruhe, konsequentes Erledigen, Sammeln, Rationalität, anderes Wesen, Körper und Blut berühren, direktester Kontakt mit dem Tod, Dankbarkeit, Fürsorge und Sorgfalt. Durch diesen Abend kann ich sagen (und vielleicht hört sich das für den ein oder anderen total blöd an): Ich habe etwas vom Leben verstanden. Ich habe in einer so tiefen und zellulären Ebene verstanden, was Leben und Sterben ist, was Kreisläufe sind und was unmittelbar zusammenhängt. Mein Freund, ich danke dir von tiefstem Herzen für deine Beharrlichkeit und Geduld, dabei zu bleiben bei dem, was du tust. Und ich danke dir für deine Großzügigkeit, mich in diese Welt mit hinein zu nehmen. Merci!

Von Lara